Zu Besuch im Atelier von Kerstin Franke-Gneuß

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Kerstin Franke-Gneuß zählt zu den wenigen national anerkannten KünstlerInnen, die aufwendige historische Tiefdrucktechniken noch heute meisterlich beherrschen und ausüben. Ihre vielfach ausgezeichneten Arbeiten sind Teil zahlreicher renommierter Kunstsammlungen, wie dem Dresdner Kupferstichkabinett, der Galerie Neue Meister in Dresden oder dem Erfurter Angermuseum. Der Künstlerin ist es gelungen in der Schwarzen Kunst der Radierung eine genuine abstrakte Bildsprache zu entwickeln. Lyrik, Landschaft und Naturwahrnehmung sind wesentliche Impulse in ihrem experimentellen Werk. Kontinuierlich lotet sie die Grenzen komplexer druckgrafischer Medien aus, parallel entstehen ihre gigantischen Kunstwerke am Bau.

Kerstin Franke-Gneuß an der Tiefdruckpresse in ihrem Atelier im Künstlerhaus Dresden Loschwitz, 2016 | Foto: Edvard Franke

Das künstlerische Leben ist ja immer von großen Spannungen geprägt, also es geht gar nicht ohne ein Spannungsfeld, sonst kann man auch gar nichts schaffen. Tja das Außenleben muss man einfach bewältigen. Da ist halt viel zu tun, dass man den Unterhalt erst mal bestreitet und, dass man auch genügend Zeit und Kraft hat für die Kunst. Aber ich muss sagen, das hat sich bei mir nie gebissen, das ist immer so ein kreativer Reibungsprozess gewesen. 

Kerstin Franke-Gneuß

Im August 2020 besuchten wir die Künstlerin Kerstin Frank-Gneuß in ihrem Atelier im Dresdner Stadtteil Loschwitz. Seit mehr als 25 Jahren hat sie hier im Künstlerhaus ihren Atelier- und Wohnraum.

Wir haben eine Kunsthochschule hier und eigentlich gehen sehr viele junge Künstler Richtung Leipzig. Es ist interessanter und bezahlbarer und das ist eigentlich sehr schade […]. Das ist ja eine Privatinitiative dieses Künstlerhaus, dass es dafür eigentlich in der Form nie wieder eine Nachfolge gegeben hat […]. Der Künstlerbund versucht solche Räumlichkeiten zu installieren, das hoffe ich, dass so etwas einmal möglich wird. Aber natürlich gibt es keine idealen Bedingungen, das ist wirklich zu bedauern. 

Kerstin Franke-Gneuß
Blick von der umlaufenden Galerie im Atelier von Kerstin Franke-Gneuß, Künstlerhaus Dresden Loschwitz | Foto: Adam Dreessen

Bezahlbarer Wohn- und Arbeitsraum für Kunstschaffende ist bereits in den 1890er Jahren rar, so auch in Dresden. Von 1897 bis 1898 entsteht hier ein bautypologisches Novum in der sächsischen Architekturgeschichte. 16 Künstlerateliers und 12 Wohnräume werden in einem Gebäudeensemble, dem Künstlerhaus, oberhalb des nordöstlichen Elbufers in Dresden Loschwitz vereinigt. Trotz späterer Umbauten ist der einstige reformerische Geist des Dresdner Architekten Martin Pietzsch immer noch spürbar. Dessen Anliegen war es, nicht das Anwesen eines Malerfürsten zu entwerfen, sondern vielmehr den Wohn- und Arbeitsraum für eine demokratische Gemeinschaft vieler Künstler zu gestalten. Funktionale und ästhetische Kriterien bestimmen den Bau noch heute: so zum Beispiel die von Lärm abschirmende, fast burgartige Fassade zur Straßenseite. Die Ausrichtung der großzügigen, reduziert industriell anmutenden Fensterflächen nach Norden. Sie spenden ideale Helligkeit und setzen die Atelierräume im Sommer keinem zu starken Lichtwechsel aus.

Ja das Haus ist extra dafür gebaut worden und das merkt man […]. Erst mal diese Ausrichtung nach Norden, auch die sehr dicken Mauern, die sehr hohen Räume, die haben auch eine Kubatur, die einfach auch Konzentration vermittelt, da kann man wirklich arbeiten […]. 

Kerstin Franke-Gneuß

Zahlreiche national bekannte Künstlerpersönlichkeiten schätzten die guten Bedingungen des Hauses, darunter Sascha Schneider, Josef Hegenbarth und Hermann Glöckner. Auch derzeit befindet sich das Künstlerhaus im Besitz der Nachkommen des Erbauers, die der anfänglichen Maxime bezahlbaren Wohn- und Atelierraum für Künstler zu schaffen, treu geblieben sind. Eine der heutigen BewohnerInnen ist die Dresdner Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß, die hier ihr besonderes Refugium gefunden hat.

Atelierraum ist ganz wichtig, das macht bei mir sehr viel aus. Es geht gar nicht mal nur darum zu fördern, sondern vielleicht noch bezahlbare Mieten zu machen und das wird ja hier privat getragen, das ist also nicht von der Stadt gefördert.

Kerstin Franke-Gneuß
Skulptur der Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß im Garten des Künstlerhauses Dresden Loschwitz | Foto: Adam Dreessen

Der zum Zeitpunkt der Erbauung mitgedachte Wunsch im Dresdner Künstlerhaus die Bildung einer Künstlergemeinschaft, im Sinne der Reformbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu motivieren, blieb jedoch unerfüllt. Lediglich im Dresdner Umland gründete sich der Goppelner Malerkreis, dem jedoch im Unterschied zu national bekannteren Künstlerkolonien in Worpswede, Ahrenshoop oder Dachau, eher eine regionale Bedeutung zukam. 

Das war damals hier ja der Grundgedanke gewesen, da gab es Worpswede, Dachau, da gab es so Künstlergemeinschaften. Dafür ist das eigentlich auch hier gebaut worden, in der Annahme, dass sich hier so eine Künstlerkolonie [bilden würde], es hieß zuerst Künstlerheim, dass sich das hier so gründet. Es ist ein Refugium. In dem Sinne sind es sehr unterschiedliche Künstler und nicht in dem Sinne so eine Künstlergenossenschaft, Gruppe usw. wie das am Anfang angedacht war. 

Kerstin Franke-Gneuß

Für die überwiegend grafisch arbeitende Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß ist das Atelier mehr als ein Schaffensort. Über die mehrere Quadratmeter umfassende Fensterfläche auf der Nordseite des Raumes nimmt sie bildwirksame Eindrücke wahr.

[…] Weil meine Augen gehen immer spazieren, auch schon vorher immer, und die sammeln natürlich irgendetwas, was ich dann machen will. In der Hinsicht bin ich angefüllt, und wenn ich mal mit einer Platte irgendwie nicht weiterkomme, ich habe ja zum Glück diesen Blick. Da bin ich sehr auf Bewegung angewiesen, die Wolken kommen hier oder der Wind und da bewegt sich etwas. Ich habe zum Glück immer so Dinge, die mich sofort irgendwie faszinieren können. Das liegt natürlich auch an diesem großen Fenster, dass ich diesen Lichteinfall habe und diesen Blick […].

Kerstin Franke-Gneuß

An der Wand, der gegenüber umlaufenden Galerie hängen gerahmte druckgrafische Arbeiten der Künstlerin, zur eigenen Vergewisserung und kritischen Prüfung, aber auch zur Betrachtung für Sammler und Journalisten. In der anderen Hälfte des Raumes lagert sie ihre Künstlerbücher, ungerahmte Aquatinta- und Kaltnadelradierungen in Grafikschränken. Der Platz unter dem Umgang ist für die eigentliche Arbeit reserviert. Dort finden sich Zeichenmaterial für erste Skizzen, Farben, Kartons, aber auch Zinkplatten, Chemikalien und Ritzwerkzeuge und schließlich die freistehende Tiefdruckpresse. Für den Betrachter scheinbar undurchdringlich, ist hier alles griffbereit arrangiert: für erste Zeichnungen, Beobachtungen, das Vorbereiten der Platten, das Radieren mit der kalten Nadel und das spätere Drucken.

Der komplexe Vorgang des Ätzens, der Reservage erfolgt extern in der Grafikwerkstatt Dresden. Die in der Nachkriegszeit von Künstlern gegründete Werkstatt für Lithographie und andere Drucktechniken wird seit Mitte der 1990er Jahre unter städtischer Trägerschaft betrieben. Den Druck, also die Abzüge von ihren zuvor geätzten und radierten Platten, nimmt die Künstlerin selbst in ihrem Atelier vor.

Im Atelier der Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß, Künstlerhaus Dresden Loschwitz | Foto: Adam Dreessen

Ja und natürlich in diesem Haus, im Künstlerhaus mit dem großen Fenster […] diese Nordfenster machen ein sehr gutes Licht, was sich so insgesamt in den Raum verbreitert. Und ich merke, dass ich bei künstlichem Licht nicht so gut drucken kann, weil ich bestimmte Dinge einfach nicht so gut sehe. Man hat hier sehr gutes Seitenlicht und man hat hier durch die dicken Mauern, auch wenn hier vorne diese große Verkehrsstraße ist, doch sehr viel Ruhe, doch sehr viel Kontemplation. […] Da kann man wirklich arbeiten, man muss also nicht gegen den Raum, sondern man kann mit dem Raum arbeiten.

Kerstin Franke-Gneuß

Eine explizite künstlerische Prägung durch ihre Familie erfährt Kerstin Franke-Gneuß nicht. Ihre Eltern sind aber kunstaffin.

Ja die waren sehr kunstaffin, die sind mit uns immer in die Museen gefahren, also da habe ich immer Originale gesehen. Auch in Konzerte [sind wir gegangen], obwohl meine Eltern einfache Leute sind, also mein Vater ist Maurer, meine Mutter ist Gärtnerin. Aber die haben sich sozusagen immer mit dem Ursprünglichen beschäftigt und uns auch eben diese Möglichkeiten gegeben. Und wir hatten eine ganz große Wand voller Bücher in unserer Stube, also ich konnte auch sehr viel lesen und war eigentlich in der Hinsicht günstig versorgt.

Kerstin Franke-Gneuß

Die Natur birgt für Kerstin Franke-Gneuß von Kindesbeinen an die größte künstlerische Inspiration. 1959 in Meißen geboren, wächst die Künstlerin ländlich auf und verbringt einen Großteil der Kindheit mit ihren drei Brüdern im Freien. Dabei schult sie schon früh ihre Beobachtungsgabe und entwickelt einen Blick für Naturphänomene.

Ich bin auf dem Lande groß geworden und bin fast immer draußen gewesen, also an der freien Luft und habe mich besonders gern in den Wiesen aufgehalten. Ich bin in Meißen geboren und zwischen Meißen und Moritzburg auf dem Land groß geworden an einem Bach, dem Gabenreichbach, der aus dem Wald dort entspringt, und an dem ich mich auch viel aufgehalten habe, und der fließt dann in die Wiesen. Und in diesen Wiesen, da ist eine große Weite bis sich dann bei Meißen das große Spaargebirge auftürmt, und das ist für mich bestimmt sehr wichtig gewesen diesen Einfluss zu haben, mich immer zwischen Licht und Schatten zu bewegen. Die Bäume zu verfolgen, wie sie sich wiegen im Wind, wie das Sonnenlicht flirrt, also das ist für mich eine ganz wesentliche Erfahrung gewesen. Ich habe drei jüngere Brüder, mit denen ich natürlich auch viel Zeit verbracht habe, und wir hatten auch einen guten Kontakt, haben uns auch immer schon über die Kunst verstanden. Aber als Kinder haben wir natürlich mehr miteinander im Grünen verbracht, Buden gebaut oder kleine Wehrdörfer und ähnliches, [Erde] im Garten ausgehoben mit Wehrgraben und wir haben viel Phantasie und viel Raum gehabt für diese Dinge.

Kerstin Franke-Gneuß

Bald darauf versucht sie ihrem Erlebten auch künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Da die Eltern den Kindern viel Freiheiten einräumen, haben sie nichts dagegen, dass ihre Tochter den Zeichenunterricht von Manfred Beyer besucht. Beyer übernahm nach seinem Kunststudium in Dresden Anfang der 1960er Jahre Lehraufträge im Abendstudium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden und leitete auch eine eigene Zeichenschule in Weinböhla, in der Nähe von Meißen. Franke-Gneuß besucht nicht nur die Kurse des Künstlers Manfred Beyer, sondern wechselt sehr schnell, schon als Jugendliche zum Abendstudium an die Dresdner Kunsthochschule.

Mir wurde da nie ein Weg verstellt. Als ich dann in den Zeichenzirkel gegangen bin, wir hatten einen Künstler im Dorf, den Manfred Beyer, da durfte ich dann auch in den Erwachsenenzirkel gehen, obwohl ich noch Kind war. Der hatte seinen Kurs in der Kunsthochschule, der Jugendkurs, und dort bin ich dann auch mit hingegangen. Und dann bin übergewechselt zur Abendschule und war dann bei der Ursula Rzodeczko und habe dort die Malerei sozusagen in ihrer glühenden Farbigkeit besonders kennengelernt und lieben gelernt. Die Ursula Rzodeczko ist für mich eine ganz wesentliche Figur gewesen, was Bildaufbau, Komposition und Farbe betrifft, das war für mich die wichtigste Begegnung. 

Kerstin Franke-Gneuß

Die Künstlerin Ursula Rzodeczko studierte ebenfalls an der Dresdner Hochschule und unterrichte dort Ende der 1950er Jahre in den Bereichen der Kunsterziehung und des Abendstudiums. Sie war Meisterschülerin von Gerhard Kettner und erhielt Anfang der 1980er Jahre selbst einen Lehrauftrag an der Dresdner Kunsthochschule. Als Jugendliche besucht Franke-Gneuß nun regelmäßig die Kurse im Abendstudium. Ihr Entschluss Kunst zu studieren steht fest. Neben dem Abitur nimmt daher das Abendstudium für sie eine wichtige Rolle ein.

Ja ich habe sehr zeitig angefangen, ich habe also neben dem Abitur, dass ich in Meißen gemacht habe, immer in Dresden, dreimal wöchentlich abends, das Abendstudium gemacht. Ich bin dann abends nach Hause gefahren, aufs Dorf wieder. Das war also sehr anstrengend, aber die die Schule war sehr „rot“ und ich wollte sozusagen auch ausreißen. Mich hat das mehr interessiert einen Freiraum zu haben und wir hatten viel Modell, wir sind auch im Sommer immer mal ein paar Wochen in den Zoo gegangen und in die freie Natur, haben dort gearbeitet. Das war einfach ein tolles Arbeits- oder Lernklima, Studierklima könnte man sagen. Dann habe ich mit 18 Jahren die Eignungsprüfung bestanden und habe dann an der Kunsthochschule mit dem Direktstudium angefangen.

Kerstin Franke-Gneuß
Kerstin Franke-Gneuß, „Pythia“, Aquatintaradierung, ca. 92 x 49 cm, 2016 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

Die Zahl der Kunsthochschulen in der DDR ist überschaubar und regional auf Berlin, Potsdam und Sachsen begrenzt. Insgesamt gibt es nur vier Kunstakademien in der DDR: die Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, die Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale, die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und die Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Die Entscheidung für ein Studium in Dresden, nicht unweit von ihrer Geburtsstadt Meißen, fiel nicht aufgrund der lokalen Nähe oder wie man meinen könnte, allein der bedeutenden Kunstsammlungen wegen. Franke-Gneuß hatte sich zunächst auch an anderen Hochschulen beworben.

Ja ich hatte in Burg Giebichenstein einen Studienplatz. Da hätte ich sofort nach dem Abitur anfangen können, aber ich habe mich dann doch für Dresden entschieden, musste dann zwar noch ein Jahr warten. Dresden hat das, was ich als Bildraum bezeichne, da die Kunsthochschule eine ganz besondere Ausbildung [bietet]. Vielleicht auch durch den Genius Loci, durch das besondere Licht, was ja doch etwas diffuser in Dresden ist. Die Bildräume, die ich von den alten Meistern [kannte], also von den Vorgängern, von denen die noch lebten, die wir uns noch getraut haben in den Ateliers zu besuchen. Das war etwas ganz Besonderes und deswegen habe ich mich für Dresden entschieden.

Kerstin Franke-Gneuß

Während ihres Studiums von 1978 bis 1984 lebten und arbeiteten noch bedeutende Nachkriegskünstler in Dresden und im Umland der Stadt. Die Studentin lernte Künstler wie Wilhelm Rudolph persönlich kennen. Dessen expressionistisches, grafisches Werk zur kriegsbedingten Zerstörung Dresdens zählt zu den herausragendsten Zeugnissen der Nachkriegskunst. Franke-Gneuß besuchte auch den konstruktivistisch arbeitenden Künstler Hermann Glöckner in seinem Atelier im Künstlerhaus, wo er bis 1984 lebte. Die Künstlerin war beeindruckt von den Bildräumen und der naturnahen, mitunter gebrochen nuancierten Chromatik der Landschafts- und Portraitmaler Curt Querner, Helmut Schmidt-Kirstein und Egon Pukall, letztere ebenfalls einstige Bewohner des Künstlerhauses in Dresden Loschwitz.

 

Ja, Wilhelm Rudolf oder Hermann Glöckner. Schmidt-Kirstein habe ich leider nicht kennengelernt, der hat ja hier in den Räumlichkeiten gearbeitet. Egon Pukall,[…], Querner… also das sind alles Bildräume, die eine Welt erschaffen, die auch so sehr an der Erde, an der Luft sind. Aber [die Bildräume] atmen anders. Deswegen hat mir die sogenannte Dresdner Mal[er]schule ganz besonders am Herzen gelegen.  

Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß verfügt über eine sensible Beobachtungsgabe und sucht auch außerhalb ihres Studiums nach extremen Wahrnehmungen der Raum- und Licht-Schattenverteilung, die späterhin als gestisch-abstrakte Formensprache in ihre Radierungen eingehen. Eine Nebentätigkeit als Nachtwächterin im Dresdner Schauspielhaus bietet ihr hierfür ausreichend Gelegenheit. 

Nachts habe ich auch gearbeitet als Nachtwächter im Großen Haus, im Theater und da gibt es natürlich [spannende Licht-Raumeindrücke], erstens weil es Nacht ist, aber weil es dort Räume gibt, die unglaublich hoch sind. Wenn man so über einen Bühnenboden geht und dann ist man da so in 20, 30 Meter Höhe und es ist nie voll beleuchtet, da ergeben sich total schräge Situationen und das habe ich dann auch in die Grafik mit eingebaut, solche Lichtverhältnisse oder schärfere Schwarzweißsituationen.

Kerstin Franke-Gneuß
Kerstin Franke-Gneuß, „Nachtgedanken“, Aquatinta mit Kaltnadelradierung, ca. 59 x 92 cm, 2013 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

Sie schätzt die relativ liberale Atmosphäre der Hochschule, auch in den 1980er Jahren der DDR keine Selbstverständlichkeit. Nach einer Phase politischer Linientreue setzte unter Professoren wie Gerhard Kettner, der von 1979 bis 1981 das Amt des Rektors an der Hochschule für bildende Künste in Dresden innehatte, weitgehend politische Entspannung ein. 

[…] Wir hatten natürlich das Glück, dass dann Kettner Rektor der Hochschule wurde und da glättete sich vieles, was vorher noch etwas schwieriger gewesen ist. Aber es ist in keiner Weise zu vergleichen mit den Studenten, die zehn Jahre vor mir studiert haben. Das muss ich sagen, das ist wirklich noch im menschlich machbaren Bereich gewesen. Und ich muss auch sagen, dass Horlbeck und auch Klotz da eine Richtung hatten, die einen nicht so eingeschränkt hat.

Es ist wichtiger gewesen wie wir untereinander uns gegenseitig auch befruchtet haben. Wir waren ja nicht so viele Studenten, wir haben in den Ateliers viel Zeit gehabt. Ich hatte selber einen Schlüssel von der Hochschule, das hatten manche andere auch, d.h. wir konnten bis nachts arbeiten, wie wir wollten. Da gab es natürlich auch viel Austausch, auch über bestimmte Literatur oder wir haben uns auch gegenseitig [für] die Bilder […] Anregungen gegeben. Das war für mich eigentlich das Wesentlichere. Das war natürlich mit den Professoren auch, man hat auch vieles gelernt und dann war es natürlich auch wunderbar, dass man auch immer Modell haben konnte. Immer an der Figur sich reiben konnte, etwas hatte, wo man den Gegenstand beobachten konnte, wie er sich im Licht verändert. Was vorn ist, was hinten ist, sich einen Raum baut.

Kerstin Franke-Gneuß

Die Begeisterung für das Medium der Radierung in all seinen Variationen, sei es mit der kalten Nadel, der Linien- oder Flächenätzung, wurde erst kurz vor ihrem Hauptstudium geweckt. Franke-Gneuß studierte zunächst bei Siegfried Klotz, einem der bekanntesten Vertreter der Dresdner Malerschule, der seit 1979 eine Dozentur für Malerei an der Hochschule innehatte. Er war es auch, der der angehenden Künstlerin den Schwerpunkt Malerei für ihr Hauptstudium empfahl. Doch Franke-Gneuß gerät ins Wanken als sie in den 1980er Jahren eine Ausstellung mit druckgrafischen Arbeiten Günter Horlbecks sieht. 

Das muss ich sagen, eigentlich war ich als Malerin bekannt. Siegfried Klotz, der mein Mallehrer war an der Hochschule, der war also vollkommen überzeugt davon, dass ich eine Malerin bin. Und ich bin ja auch in der Grafik malerisch.

Als wir uns entscheiden konnten wo wir hingehen möchten [Spezialisierung im Hauptstudium], da hatte der Professor Horlbeck eine große Ausstellung mit Radierungen. Da hat mich die Technik einfach irgendwie angesprungen oder überrollt und ich bin dann später also auch aus den Werkstätten, die ja im Kellerbereich [der Hochschule für Bildende Künste in Dresden] waren, selten heraus gekommen weil ich dann in der Alchemie [gefangen war], die ja in der Radierung besonders der Fall ist [die in der Radierung besonders entscheidend ist]. Das ist zwar auch beim Steindruck [der Fall], aber bei der Radierung muss man noch viel mehr mit Chemie umgehen. Seitdem habe ich mich in die Radierung verliebt oder in die Grafik verliebt und das begleitet mich seitdem […].

Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß entscheidet sich in ihrem Hauptstudium für die Fachklasse Malerei und Grafik von Professor Günter Horlbeck, einem wesentlichen Anreger für die Generationen der in den 1970er und 1980er Jahren ausgebildeten Künstler im Bereich der Druckgrafik. Bei ihm absolviert sie auch ihr Diplom.

Entscheidend für die künstlerische Entwicklung Franke-Gneuß‘ war auch ihre Begegnung mit dem versierten Berufsdrucker Roland Ehrhardt (1924 – 1999). Ehrhardt hatte 1942 seine Ausbildung zum Flachdrucker in Dresden absolviert und arbeitete von 1946 bis 1989 als Fachinstrukteur und Dozent in der Druckwerkstatt der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. Künstlerpersönlichkeiten wie Josef Hegenbarth, Max Schwimmer, Hans-Theo Richter und Max Uhlig ließen ihre Arbeiten eigens von ihm drucken. Nahezu zwanzig Jahre lang, von 1948 bis 1966 reiste Otto Dix jährlich vom Bodensee für einen mehrwöchigen Aufenthalt nach Dresden, um hier seine Radierungen und Lithographien von Roland Ehrhardt drucken zu lassen. Kerstin Franke-Gneuß erhält bei Roland Ehrhardt im Rahmen ihres Studiums eine solide Grundausbildung im Bereich der Lithographie und der Radierung. Vor allem in der Radiertechnik unterweist der routinierte Drucker die Studenten auch in seiner eigenen Werkstatt außerhalb der Hochschule.  

[…] Und dann hatte ich auch das Glück, dass ich beim Roland Ehrhardt [unterrichtet wurde], der ja ein ganz wesentlicher Lehrer gewesen ist für Drucktechniken, und dann bin auch bei ihm zu Hause im Atelier gewesen und habe bei ihm das Drucken gelernt. Ja so einen Dix-Drucker zu haben, wo man dann auch die Steine noch sieht, wo noch solche Motive dann da sind, das ist schon sehr beeindruckend. Ja Roland Ehrhardt hat immer erzählt, er war ein unglaublicher Fabulierer. Die Steine von Hans Theo Richter waren auch noch zu sehen. Man spürt das auch in den Räumlichkeiten.

Kerstin Franke-Gneuß

Von Ehrhardt erwirbt Franke-Gneuß eine Souveränität im Druckvorgang, die es ihr fortan ermöglicht Originalabzüge vom Druckstock eigenständig, ohne die Hilfe eines Druckers anzufertigen. Keine Selbstverständlichkeit für bildende Künstler, die häufig auf das Einfühlungsvermögen und die Erfahrung eines Druckers angewiesen sind. Die Künstlerin schätzt die Autonomie beim Drucken. Hier kann sie dem Motiv noch entscheidende Nuancierungen abgewinnen, mitunter auf höchst experimentelle Weise.

Was das Schönste ist am Drucken, man färbt das ja ein, also man hat ein total schwarzes Viereck, sage ich jetzt mal. Und dann geht man mit dem fettesten Lappen drüber und reibt das so, da geht das noch recht schwer und dann werden die Lappen halt immer weniger schwarz, also [sind] mit immer weniger Farbe [gesättigt] und dann steigt das Bild empor. Das ist für mich der tollste Moment. Dann muss man natürlich immer weniger Druck geben, also man ist sozusagen immer verbunden mit der Platte, mit dem Motiv und dann ist es etwas total Anderes wenn man es auf dem Papier hat. Also ich liebe es immer noch am meisten, natürlich auf der Platte, das ist aber mein Vorteil, da ich das selber auch drucke, diesen Prozess immer wieder mir nicht nur so vors Auge zu holen, sondern in dem Moment kommen natürlich für mich die Anregungen auch, jetzt ist hier das an der Stelle dunkler, könnte ich vielleicht so weiter bearbeiten das Blatt. Gut, dann hieß es immer bei Ehrhardt Künstlerdrucker sind schrecklich. Weil wie gesagt, die denken beim Drucken auch immer noch ans Bild, aber es hat mich zu vielem schon inspiriert, muss ich sagen.

Kerstin Franke-Gneuß
Tiefdruckpresse von Kerstin Franke-Gneuß in ihrem Atelier im Künstlerhaus Dresden Loschwitz | Foto: Adam Dreessen

Die Arbeit im Medium der Druckgrafik erfordert Disziplin und Organisationstalent, da die Künstlerin nicht ausschließlich in ihrem Atelier arbeitet. Jahreszeitliche Witterungen für die Bearbeitungsschritte im Freien und die Nutzung externer Werkstatträume müssen einkalkuliert werden.

Das muss ich schon organisieren, dass muss ich gestehen. Zum Beispiel in der Grafikwerkstatt muss man sich auch im Vorhinein anmelden, da kann man nicht sagen, ich möchte heute kommen, sondern da muss man sich im Vorhinein anmelden und dann bereitet man natürlich die Platten vor, dass man nicht erst dort anfängt, sondern die Zeit gut nutzt. Vieles ist eben auch wetterabhängig, die Platte polieren mache ich auch gern im Freien, aber dann wenn es geht, nicht wenn die Sonne mir sofort alles weg saugt, sondern halt früh morgens und abends und z.B. auch das Abdecken der Platten mache ich dann auch lieber, wenn nicht die Sonne so drauf knallt. Im Winter muss ich wieder alles ganz anders organisieren, also ich muss mich immer danach richten wie die Situation [ist], auch gerade beim Drucken. Wenn es zu sehr heiß ist, ist es auch nicht gut zu drucken. Also wenn ich jetzt am Stück etwas drucke, wenn ich eine Auflage drucke oder so, muss ich mir das auch überlegen, wie ich das mache. Es ist so wie bei der Grafik, man kann nicht ohne Plan arbeiten, das geht einfach nicht. Man muss einfach eine Nacht vorher die Papiere eingeweicht haben, und in einer gewissen Zeit auch drucken, sonst vergammelt das Papier.

Kerstin Franke-Gneuß

Doch dem Vorgang des Druckens eines finalen Originalabzugs geht der Prozess der Werkgenese voraus, die bei Kerstin Franke-Gneuß zunächst eine Annäherung an ihr Sujet bedeutet.

Also ohne Eindrücke kann ich gar nicht arbeiten. Ich brauche also immer einen Inspirationspunkt oder so einen poetischen Anker an dem ich mich reibe. Oder „Reiben“ ist vielleicht nicht mal der richtige Ausdruck, aber der wie so ein Pol ist, um den ich mich herum bewege oder der mich in bestimmte Richtungen zieht, und dafür mache ich natürlich Zeichnungen oder arbeite vor Ort. Und das setze ich dann im Atelier um. Ich nehme natürlich auch die Platten mit raus. Ich mache Kaltnadeln vor Ort draußen, aber natürlich jetzt nicht im Meterformat sondern in einem handlichen Format, was ich so bewältigen kann.

Kerstin Franke-Gneuß

Während ihrer Ausflüge in die Umgebung der Landeshauptstadt, seien es die Elbauen, das sächsische Hügelland und Mittelgebirge, Seen- und Flusslandschaften, ist Franke-Gneuß in permanenter Aufnahmebereitschaft. Ihr visueller Sinn ist geschärft, scheint selten zur Ruhe zu kommen.

Ja da hat man eben das Glück, dass man hier doch eine sehr gute Umgebung hat, die sehr anregend ist und man hier nicht eingemauert ist, sondern viel Natur [vorfindet], hier ist sofort die Elbe. Oder man geht hier auf den Elbhang, da ist Grün, da ist Wald, da ist der Rhododendrongarten […].

[…] Dann habe ich meine Ritzwerkzeuge und meine Platte, die habe ich natürlich schon vorher poliert. Also ich habe im Auto immer so etwas in der Seite drin, damit wenn es mich überkommt, wenn irgendeine Situation besonders schön ist. Aber unterwegs haben ich natürlich, weil die Platten ja auch schwer sind, dann auch Zeichnungen, kleines Skizzenpapier bei mir.

Ich könnte jetzt nicht mit irgendetwas anfangen ohne so einen Anregungspunkt [zu haben], Anregungspunkt ist eigentlich falsch, ich habe das innere Bild und dann versuche ich das umzusetzen. Ohne dem kann ich eigentlich nicht arbeiten, da fließt nichts zusammen, dann würde das auch zerfallen. Das würde sich, also diese Bilder würden sich nicht organisieren und ordnen, denn ich versuche, die ja in der Form wie auch Natur funktioniert, also wie so eine Pfütze, die fließt ab oder hier ist ein Stau usw. oder andere Situationen, die sich durch Wachstum ergeben zum Beispiel. Das setze ich hier um.

Kerstin Franke-Gneuß
Im Atelier von Kerstin Franke-Gneuß, Künstlerhaus Dresden Loschwitz | Foto: Adam Dreessen

Franke-Gneuß bedient sich einer gestisch-abstrakten Formensprache, die dennoch im konkreten Gegenüber wurzelt – sei es eine literarisch-philosophische Quelle oder eine unmittelbare Begegnung.

Also ich komme ja vom Figürlichen und ich habe diese Dinge angefangen so zu arbeiten, diese Bilder zu entwickeln, weil ich in dem Bild jeden Tag etwas Anderes entdecken möchte. Das soll mir jeden Tag irgendeine andere Geschichte erzählen. Es fällt das Licht anders darauf, ich bin anders. Also, dass ich einfach eine Verdichtung habe. Das ist mein Anlass gewesen, in diese Richtung weiter zu arbeiten. Und das hat sich immer aus dem, vor der Natur also aus der Situation, oder vor der Person, die ich portraitiert habe ergeben. Und das ist zum Teil heute noch so, dass mich Personen dazu anregen, wenn ich sie zeichne, dann natürlich irgendwo doch ins Abstrakte zu gehen […]. Ich erlebe ihn ja jetzt nicht bloß, wenn er oder sie vor mir sitzt, sondern was sie erzählt, also diese Gesamteindrücke, also das sind für mich wie Überlagerungen. Das passiert mir natürlich in der Landschaft genauso, also ich nehme einen Morgen- und einen Abendeindruck noch mit zusammen.

Kerstin Franke-Gneuß

Ihre konkreten Natureindrücke und Wahrnehmungen transformiert Kerstin Franke-Gneuß in abstrakten linien- und flächenbasierten Kompositionen, die sich während des Druckvorganges zu differenzierten Tiefenräumen entwickeln. In mehreren, übereinander lagernden Ebenen variiert die Künstlerin flächige Kompartimente, die in Anmutung und Verteilung auf dem hellen, lediglich vom Plattenton des Druckens gefilterten Fond, wie Inseln oder Treibgut schweben. Mittels unterschiedlicher Ätzintensität entstehen Doppelbilder, tonal verschiedener Grauabstufungen. Hellgraue, schwach geätzte Flächen diffundieren in dunklere, schwarze Ebenen, die sich wie Urbilder zu Schatten verhalten. Welche Form sich aus welcher entwickelt, ist mitunter nicht mehr auszumachen, der Austausch der Bildräume gelingt in beide Richtungen.

Der Raum ist für mich mehr groß, also in die Dimensionen wachsend und das Licht ist das Primäre. Es ist immer etwas, was heraus scheint oder was in Tiefen geht. Ich habe mal eine Ausstellung „Lichte Tiefen“ [Ausstellung der Künstlerin im Kunstverein Meißen, 2010] genannt. und damit sind der Raum und das Licht schon beschrieben. Das ist für mich eigentlich das, dem ich immer nachgehe. Und ich finde, dass sich durch diese Reduktion in das Schwarz-Weiß eigentlich eine unglaubliche Farbigkeit auftut, für mich jedenfalls.

Kerstin Franke-Gneuß

Bildnerisches Vorstellungsvermögen und Inspiration erwächst Franke-Gneuß auch aus ihrer Lektüre. Insbesondere die Lyrik der Schweizer Schriftstellerin Ilma Rakusa ist von wesentlichem Einfluss für das grafische Werk der Dresdner Künstlerin. Ihr hat Franke-Gneuß 2019 mit “Wanderungen am Huy” ein originalgraphisches Buch gewidmet.

Ja mich hat besonders die Ilma Rakusa beeindruckt. Also seit Jahren begleitet mich ihr Werk und ich habe jetzt voriges Jahr ein Buch zu ihren Haikus gemacht, weil ich ein sehr schönes Stipendium im Harz hatte im Huy, im Kunstverein Röderhof. Dort habe ich mich dann etwas länger damit beschäftigt. Ich habe auch schon früher zu ihrem Buch „Mehr Meer“ [erschienen im Dorschl Verlag, Graz 2009] eine große Ausstellung gemacht und stehe mit ihr in Kontakt. Sie ist eine Schriftstellerin, die sehr prägnant ist, auf dem Punkt, und mit wenigen Worten eine große Situation auch atmosphärisch zusammenfassen kann. Das begeistert mich einfach. 

Kerstin Franke-Gneuß
Kerstin Franke-Gneuß, „Meerlicht“, Aquatinta- und Kaltnadelradierung zu Ilma Rakusas „Mehr Meer“, 54,6 x 88,7 cm, 2009 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß
Kerstin Franke-Gneuß, „Zuflucht“, Aquatinta- und Kaltnadelradierung zu Ilma Rakusas „Mehr Meer“, 54,6 x 88,7 cm, 2009 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

In Studien und Skizzen, mitunter in Gouache und Bleistift auf Papier oder direkt mit dem Ritzwerkzeug auf der Zinkplatte, entwickelt die Künstlerin ihre Komposition. Der Vorgang der Radierung selbst ist bei ihr häufig ein Kombinationsdruckverfahren. Das heißt, sie verwendet mehrere Techniken des Tiefdruckes innerhalb eines Druckstocks. Das Spektrum reicht von der Aquatinta, einem komplexen Tonflächenätzungsverfahren des 18. Jahrhunderts über malerische Aussprengverfahren wie der Reservage bis zur Kaltnadel- und Ätzradierung. Grundsätzliches Prinzip der Kaltnadelradierung ist das unmittelbare manuelle Eingraben von Linien in das Metall. Die Künstlerin muss mit Sticheln und anderen Ritzwerkzeugen gegen den Widerstand der Zinkplatte arbeiten. Bei freieren Linienschwüngen erfordert dies hohen Kraftaufwand und entsprechende Präzision. Die sich aufwerfenden Grate des Metalls beim Eindringen des Stichels, hinterlassen charakteristische weiche Furchen im finalen Druckbild. Doch weit komplexer sind die zuvor genannten Flächenätzungsverfahren. Die hierfür erforderlichen chemischen Bearbeitungsstufen ihres Druckstockes nimmt die Künstlerin in der Dresdner Grafikwerkstatt vor.

Oft miete ich mich in der Grafikwerkstatt ein, weil ich dort in den Ätzräumen etwas besser als im Atelier arbeiten kann. Ich bereite das im Atelier vor, aber dort kann ich dann die Säurewannen benutzen, dort sind gute Abzugsmöglichkeiten, was hier im Atelier nicht so gegeben ist.

Dann geht es darum, dass man die Platten abdeckt mit Asphalt-Lack. Ich arbeite vor allem mit Zinkplatten, das sind Metallplatten die etwas silbern glänzen, und ich war das einfach so gewohnt, weil wir damals kein Kupfer haben konnten, weil das einfach teuer ist. Das [ist einfach so, dass] mir der farbliche Unterschied, also zwischen Hell Dunkel besser gefällt. Zwischen dem dunklen Asphaltlack und dem doch relativ hellen Zink. Dabei bin ich dann geblieben und da gibt es die verschiedensten Möglichkeiten die Oberfläche anzurauen, man kann das mit Aquatinta machen, in dem man ein Korn aufschmilzt und das eben verschieden lang in die Säure legt und immer wieder abdeckt, so dass verschiedene Dunkelheits- oder Verschattungsstufen eintreten. Dann hat man eben die Möglichkeit das wieder ein bisschen zu polieren und noch weichere Übergänge zu machen. Oder man macht eine Reservage, eine Aussprenge, also eine Zuckerwasserzeichnung, die man abdeckt und wenn sie getrocknet ist, in ein Wasserbad gibt, dann möchte das Zuckerwasser sich lösen und sprengt sozusagen den Asphaltlack ab und dann geht an diese Stellen die Säure wieder rein und vertieft sozusagen die Dunkelheiten und so kann man dann eine Platte mit mehreren Schichten von Bearbeitungen drucken.

Ich mache jetzt nicht bei jedem Schritt einen Zwischenabzug, aber doch sagen wir mal nach drei, vier oder fünf Bearbeitungsstufen. Man muss ja immer wieder alles abwaschen, also es ist schon sehr zeitaufwändig, es muss ja auch wieder trocknen. Da komme ich dann hier im Atelier zum Drucken und guck wie weit die Platte gediehen ist und wie ich sie weiterbearbeite, und die Kaltnadeln mache ich dann alle hier noch über die Untergründe. Die Kaltnadel liegt dann oben drauf und wenn ich die wieder in die Säure gebe, ist sie nicht mehr ganz so frisch, die nutzt sich eben sehr ab.

Kerstin Franke-Gneuß

Das gerade bei einem so sensiblen Vorgang wie dem des Tiefdrucks Missgeschicke unterlaufen, bleibt nicht aus. Die Künstlerin hat jedoch einen Weg gefunden ihre Fauxpas zu bewältigen.

Ja wenn was schief geht, das ist spannend, dann gehts los. Ja also oftmals, wenn ich nicht genug Abstand habe, mache ich zu schnell weiter, das ist schade. Denn der Fehler ist eben ein Angebot. Der Fehler ist das Angebot, so jetzt ist es anders geworden als ich wollte, und das ist sehr oft bei der Radierung so. Eigentlich bin ich glücklich, muss ich sagen, wenn es schief geht, das sage ich jetzt mal. Weil mich das auf andere Ideen bringt, jetzt muss ich was unternehmen oder aber es war eigentlich toll, dass es schiefgegangen ist. Es ist dunkler geworden oder es ist überhaupt nicht so dunkel geworden und jetzt muss ich einfach eine andere Resonanz mit dem Bild [schaffen]. Also meine bildnerische Intelligenz muss sich jetzt hochreißen, also die muss eine Lösung finden.

Oftmals hat mir das ganz neue Serien geschaffen, dass ich etwas völlig Neues gemacht habe, weil mal was schief gegangen ist. Das ist oftmals so, dass ich dann die Platte nicht nutze, aber den Weg, der erweitert sich sozusagen für mich. Ich warte eigentlich immer auf den Zufall. Also ich halte die Hand offen, dass er sich da reinlegt, deswegen bin ich da auch sehr aufmerksam und habe natürlich, wie zielbewusst oder planvoll andere Kollegen arbeiten und damit nicht so umgehen würden, […] ich habe mir diesen offenen Weg [gewählt], dass ich lieber noch etwas abschleife und dann wieder neu anfange. Also für mich ist es ganz wichtig eine Platte vielfach bearbeitet zu haben. 

Kerstin Franke-Gneuß

Für den Druckvorgang kehrt Kerstin Franke-Gneuß wieder in ihr Atelier zurück, hier findet sie die entsprechende Ruhe und Konzentration, um auch höhere Auflagen drucken zu können. Die Arbeit an einer Radierung oder einem Werkkomplex ist jedoch mit dem Druckvorgang nicht abgeschlossen. Die Findung des Titels ist für die Dresdner Künstlerin ebenso bedeutsam.

Ja das gehört eigentlich für mich dazu. Manchmal habe eine ganze Seite oder zwei Seiten Titel geschrieben für ein Bild, um herauszukriegen, wie heißt das wirklich. Ich gehe natürlich auch schon im Vorhinein mit einem bestimmten Thema daran, aber das ist immer eine sehr große Findungsprozedur, auch für mich. Das zum Beispiel heißt „Spirit“ [zeigt auf eine Arbeit], also so ein Geist, der da heraustritt. Und Literatur und Poesie ist für mich eigentlich sehr wichtig. Das erste Buch, was ich gemacht hatte, war zu Ingeborg Bachmann „Schatten Rosen“ [ Schatten Rosen Schatten, Gedicht der Autorin, erschienen im Band „Sämtliche Gedichte“, 1956 im Piper Verlag München]. Es ist mir immer noch sehr nah und vielleicht ist da irgendeine Affinität in mir. Obwohl sich meine Arbeiten doch in einem so großen Spannungsfeld befinden, ist der zentrale Punkt um den das kreist, vielleicht etwas Poetisches.

Ja eine Ausstellung hieß bei mir auch “Die Unendlichkeit der Linie” [Ausstellung der Künstlerin 2009, in Galerie des Freundeskreises der Universitätssammlungen, Kunst+Technik der Technischen Universität Dresden]. Und so einen gewissen tiefen Raum, der ich will nicht sagen, der unendlich ist, aber der das zumindest anklingen lässt oder anstößt, den habe ich mir immer gewünscht und ich denke, dass der mir auch manchmal geglückt ist.

Kerstin Franke-Gneuß
Kerstin Franke-Gneuß, „Spirit“, Aquatinta mit Reservage und Kaltnadelradierung, 55 x 30 cm, 2015 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

Dank zahlreicher Stipendien und Austauschprogramme konnte die Dresdner Künstlerin für längere Zeiträume in vielen Städten Deutschlands aber auch in Europa, Nord- und Südamerika leben und arbeiten. Während ihrer Aufenthalte erweitert sie ihr druckgrafisches Repertoire, orientiert an den Bedingungen der jeweiligen Druckwerkstätten, inspiriert durch ihre Gastgeber-Künstler, aber auch auf eigenen experimentellen Wegen.

[…] Ja das ist das Schöne, wenn ich Stipendien habe, und wenn ich jetzt in einem anderen Land bin und also nicht meine günstigsten Voraussetzungen [habe], sondern irgendetwas ist anders. Also das können die verschiedensten Dinge sein, also muss ich mir behelfen, also guck ich, was machen die denn, wie ist denn das bei denen oder was liegt denn da rum? Dann kommt man dadurch experimentell auf viele Ideen, die man zu Hause überhaupt nicht entwickeln kann.

Kerstin Franke-Gneuß

In den USA wird sie zum Beispiel mit einer interessanten Art der Trocknung von Grafik nach dem Druckvorgang vertraut gemacht.

Ja zum Beispiel ich habe hier diese schönen, diesen Turm von Trockenpappen. Aber in den USA gibt es gar keine Trockenpappen. Also die haben dann normale Pappen, wo die das dann zwischen[legen]. Und dann habe ich gesehen, das machen die auch in den nordischen Ländern so, die kleben das an die Wand, da trocknet das nämlich am schnellsten und dann schneidet man das halt raus, das Papier. Ja Mensch, diese herrlichen handgeschöpften Ränder, wir sind ja…, also Hahnemühle ist das Papier was ich benutze, von Römerturm. Und Hahnemühle wird weltweit als Papier sehr geschätzt und ist natürlich dort viel teurer als bei uns, und da kann ich das echt nicht verstehen, dass man diesen Schöpfrand, den ich hier immer schön reiße, damit er sich angliedert, praktischer Weise immer rausschneidet. Geht halt nicht anders. Aber tolle Formen, die sich dann eben ergeben, durch diese vielen Papierstreifen an der Wand. Und man kann sich eben helfen mit irgendetwas.

Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß entdeckt zudem die Möglichkeit unkonventionelle Materialien als flächenerzeugendes Element in ihre Radiertechnik zu integrieren.  

Was aber jetzt für meine Arbeit wichtiger war, ist dass ich vieles angefangen habe abzukleben. Und […] vor allem mit Paketband, das doch relativ gut hält. Erst hatte ich das nur benutzt, um die Rückseiten abzudecken und dann hatte ich das auch vorn benutzt, das kann man jetzt schlecht mit einem Korn anschmelzen, weil dann löst sich das ja auf. Dann habe ich das mit Sprühflaschen versucht, da ein Korn darauf zu applizieren und das ging dann auch wieder. Und dann habe ich so weitergearbeitet, das ist jetzt im Moment gerade das, was jetzt hier zu sehen ist. Aber hier arbeite ich dann eben auch wieder mit dem Pinsel, also ganz unterschiedliche Strukturen oder ich nehme Platten, die ich mit verschiedenen Pinselstärken auch bearbeitet habe und klebe dann wieder ab oder poliere. Und dann ergeben sich eben solche klaren Kanten, wo eben das Kristalline dann wieder mehr ins Spielfeld kommt.

Kerstin Franke-Gneuß

Die Künstlerin schätzt die besondere Infrastruktur für Druckgrafik, die sich ihr mit der Dresdner Grafikwerkstatt, der Hochschule für Bildende Künste und den Künstleraustauschprogrammen der Landeshauptstadt, aber auch anderen nationalen Stipendienangeboten bietet. Dennoch ist sie sich bewusst, dass gerade die zeitgenössische Druckgrafik, eine Gattung darstellt, die im Kanon der bildenden Künste zu Unrecht oftmals eine tendenzielle Marginalisierung erfährt, was sich auch in der Ausstellungspolitik der internationalen Museumslandschaft spiegelt. Kerstin Franke-Gneuß engagiert sich daher u.a. im Rahmen von Workshops für die Erhaltung und Weitergabe druckgrafischer Technologien und historischen Wissens um die Vielfalt grafischer Medien. Zudem ist sie Mitglied im European Network for Development and Education in Graphic Art, kurz ENDEGRA genannt. Die europäische Vereinigung der grafischen Künste tagte bereits mehrfach in Dresden und ist eines der wichtigsten Netzwerke für alle grafisch arbeitenden KünstlerInnen. 

Und da ist natürlich ENDEGRA auch ein sehr guter Punkt, weil da einfach schon so ein Netzwerk aufgebaut ist. Was mir eben auch Spaß gemacht hat, als ich in Cleveland, Ohio war, das ist eine sehr sehr schöne Werkstatt und ich hatte das besondere Glück, dass ich da ein Zink benutzen konnte, was einfach grandios war. Das hat sich sozusagen selbst meinen Fingernagelabdruck gemerkt, und die Platten, die ich jetzt noch von da habe, die sind sozusagen ein großer Schatz für mich. Aber es ist auch sonst sehr interessant gewesen, da ist eine andere Aufbruchmentalität, dort wurde eine große Handschöpfpapierwerkstatt gegründet. Das war sehr interessant dort einmal hineinzuschauen. Oder ganz tolle Werkstätten gab es auch an den Hochschulen, da habe ich gestaunt, was denen da zur Verfügung steht und da hatte ich den Eindruck, dass diese Drucktechniken eigentlich von den Studenten sehr gern benutzt werden, oder dass die sich darein vertiefen. 

Kerstin Franke-Gneuß

Im Jahr 2016 wird die Künstlerin mit einem der renommiertesten Preise für Druckgrafik ausgezeichnet – dem Felix-Hollenberg-Preis. Namensgeber ist der im 19. und 20. Jahrhundert tätige, bedeutende Baden-Württembergische Maler und Landschaftsradierer Felix Hollenberg. Der seit 1992 zum neunten Mal vergebene Preis, widmet sich explizit der künstlerischen Originalgrafik, unter besonderer Berücksichtigung der Radierung.

[…] Ja das ist großartig, also erstens mal, dass man schon unter sehr guten Künstlern da ausgewählt wird. Felix Hollenberg ist jemand gewesen, der die Grafik wiederbelebt hat, die nennen das Original-Grafik, das ist für mich gar nicht nachvollziehbar gewesen. Im sächsischen Raum geht es immer um das Original und nicht um irgendwelche Vervielfältigung. Da macht man mal eine kleine Auflage, aber das ist nicht das Ziel. Und das hat aber Felix Hollenberg im Württembergischen Raum zu einer ganz anderen Zeit wieder in die Waagschale geworfen und ist eben auch sehr viel rausgegangen in die Natur, hat also sehr viele Landschaften gemacht und die Landschaft ist in der Schwäbischen Alb ganz wundervoll. Die haben ganz besonderes Licht, das ist faszinierend und er hat auch riesige Himmel gemacht und Himmel sind ja auch für mich ein großes Thema. So einen Preis zu bekommen, von so einem Vorgänger, das ist natürlich toll. Das war auch mit einer großen Ausstellung und einem Katalog verbunden. Außerdem sind auch in der Reihe, die den Preis vor mir bekommen haben, sehr wunderbare Grafiker und eben Radierer. Das tolle ist, dass das ein Preis ist für Radierung und Radierung wird, denke ich, oftmals nicht ganz so geschätzt oder die Möglichkeiten werden nicht ganz so erkannt, die in diesem Medium liegen.

Kerstin Franke-Gneuß

Obwohl das graphische Oeuvre von Kerstin Franke-Gneuß zweifelsohne ihr künstlerisches Hauptwerk darstellt, erreicht die Künstlerin ein großes Publikum mit ihren bis zu zehn Meter hohen Lichtinstallationen im öffentlichen Raum. Aus verschiedenfarbigen Acrylglasstäben entstehen ihre Skulpturen, die mitunter von UV-Strahlern beleuchtet werden.

In den 1990er Jahren entdeckt die Künstlerin das ursprünglich technisch genutzte Material für ihre grafisch anmutenden Installationen, die sie auf Wunsch staatlicher oder kommunaler Auftraggeber v.a. in Stadträumen in Dresden und Chemnitz installiert.

1997 wird die Künstlerin z.B. von der Semperoper beauftragt eine Arbeit auf dem Dach der Probebühne des Hauses zu installieren. Anlass ist die Premiere der Literaturoper “Die Bassariden” des zeitgenössischen Komponisten Hans Werner Henze. In einem gigantischen Knäuel aus blutroten Acrylglasfäden thematisiert Kerstin Franke-Gneuß den triebhaften, lustvollen Rausch des Dionysischen, das nicht nur in Henzes Oper über das disziplinierte vernunftbegabte Prinzip zu siegen scheint. 

Kerstin Franke-Gneuß, „Schattenglut“, Acrylglas-Installation auf dem Dach der Probebühne der Semperoper Dresden, anlässlich der Premiere der Oper „Die Bassariden“ von Hans Werner Henze, 1997 | Foto: Hans Strehlow

Ja meine Grafik basiert ja vor allem auf der Linie. Die Linie ist ganz wichtig für mich. Und die Linie habe ich eigentlich immer sehr groß gesehen, auch wenn das kleine Arbeiten sind, sprengen sie doch den Raum, oder die Dimension habe ich sehr groß gesehen. Dann hatte ich so ein Material, was eigentlich durchsichtig, diffus aussieht. […] wenn man das aber mit UV-Licht nachts anstrahlt, dann glüht oder leuchtet das ein bisschen. […] Und habe das dann bestellt das Material, was eigentlich für die Technik, also für technische Bereiche gedacht ist […].

Daraufhin ist dann die Semperoper auf mich zugekommen und hatte gefragt, ob ich zu den „Bassariden“von Hans Werner Henze [eine Installation erarbeiten möchte], da war die Erstaufführung […]. Das ist so eine Installation, die mit dem Stück zu tun hat. Da hatte mich dann interessiert, das dunkle Blut, das im Dunklen glüht, also was im Menschen untergründig immer doch die Hauptsprache vielleicht ist. Unter dem, dass man gedanklich vielleicht doch etwas anderes möchte, dass doch die inneren Triebe, sage ich einmal, wesensbestimmend sind. Und das ist in den „Bakchen“ [Drama des griechischen Dichters Euripides, 406 v. Chr., diente als literarische Vorlage für das Libretto der Oper Hans Werner Henzes], also in den Bassariden dort deswegen eine sehr intensiv rote Skulptur geworden. 

Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß, „Schattenglut“, Acrylglas-Installation auf dem Dach der Probebühne der Semperoper Dresden, anlässlich der Premiere der Oper „Die Bassariden“ von Hans Werner Henze, 1997 | Fotos: Hans Strehlow

Dass Künstlerinnen immer noch zu wenig in der Öffentlichkeit vertreten sind – darauf wies wohl noch einmal die #Metoo Debatte hin. Die 2017 erneut entfachte Diskussion um Frauenrechte, offenbarte, dass auch die Kunstszene, bzw. der Kunstmarkt weiterhin männlich dominiert werden. Zwei Drittel der Galerien weltweit von Basel über Berlin bis nach New York vertraten zum damaligen Zeitpunkt überwiegend männliche Künstler. Doch anscheinend ist die Kunstszene nur ein Abbild der Gesellschaft, in der Künstlerinnen ebenfalls einen Karriereknick erleben, wenn sie Mutter werden, so wie Frauen in anderen Bereichen auch. – Die Frage nach der Weiblichkeit in der Kunstszene ist nicht neu – bereits Mitte der 1980er Jahre gründete sich beispielsweise in New York die anonym operierende Künstlergruppe der „Guerrilla Girls“. Ihr Ziel war und ist es die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und der Rasse in den Mittelpunkt der Kunstgemeinschaft und des Kunstbetriebs zu stellen.

Ebenfalls vor über dreißig Jahren wurde die Dresdner Sezession 89 gegründet – im März 1990 trugen sich 21 Künstlerinnen und zwei Kunstwissenschaftlerinnen als einer der ersten Kulturvereine nach 1989 in das Amtsregister von Dresden ein. – Primäre Motivation war es damals nicht ein feministisch aktiver Verein zu sein. Doch die Geschlechterungleichheit bewog die Frauen sich zusammenzuschließen.

Kerstin Franke-Gneuß, „Lichtstreif“, Aquatinta mit Kaltnadelradierung, ca. 92 x 49 cm, 2011 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

Aber in bestimmten Ausstellungen hatte man dann komischer Weise nur Männernamen oder zum Beispiel bei Preisen. Das ist ja zum Teil heute noch so obwohl ja jetzt sehr viel mehr Künstlerinnen auch die Power haben da hoch zu kommen und bei uns hatte sich das so ergeben, dass wir mit ein paar Frauen zusammen ausgestellt hatten. Da gab es Protest, wieso nur Frauen? Da sind wir ein bisschen wach geworden und haben gesagt ok, da müssen wir etwas tun.

Kerstin Franke-Gneuß

Die angesprochene Ausstellung fand 1987 in der Dresdner Galerie Mitte statt, vier Künstlerinnen präsentierten ihre nicht dem sozialistischen Realismus entsprechenden Arbeiten und erregten aber vielmehr durch den Ausschluss männlicher Kollegen Aufsehen.

Denn auch wenn die offiziellen Gleichberechtigungsbekundungen und auch die sozialen Rahmenbedingungen in der DDR mehr versprachen – war die Kunstszene trotz allem von Männern dominiert worden. – Die Vereinigung der Künstlerinnengruppe „Dresdner Sezession 89“ gründete sich jedoch nicht zuletzt aus dem Willen heraus gemeinsam zu arbeiten, sich auszutauschen, und Raum für das Schaffen von Künstlerinnen zu bereiten. – Bereits vor der Gründung des Vereins organisierten die Frauen abwechselnd Treffen in ihren Ateliers und tauschten sich mit Gleichgesinnten über künstlerische und persönliche Probleme aus. Diese Treffen waren Ende 1980er Jahre nicht ganz ungefährlich, mitunter jenseits der Legalität des damaligen sozialistischen Staates.

Im Dezember 1989 als der gesellschaftliche Umbruch spürbar wird, reift der Entschluss aus den Künstlerinnentreffen in der Galerie Mitte in Dresden eine Vereinigung zu gründen und sich öffentlich im Dialog in Form von Ausstellungen, Vorträgen, Aktionen, Projekten auszutauschen. Beteiligt war auch die junge Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß.

Die Dresdner Sezession, das sind einige Kunstwissenschaftlerinnen und Künstlerinnen, ganz zufällig eigentlich ausgewählt. Wir haben uns an einem Abend beschlossen zu gründen, und die da waren, waren jetzt drin. Wir sind also ganz unterschiedlicher Richtung und Natur, was vielleicht auch ganz gut ist, sonst hätten wir da nicht dreißig Jahre geschafft eine Galerie zu betreiben. Im Moment die „galerie drei“, also unsere dritte Galerie, wir stellen auch außerhalb aus, stellen aber meistens eigentlich Künstlerinnen aus, die nicht von uns sind, also wir geben anderen eine Bühne.

Kerstin Franke-Gneuß

Das Selbstverständnis der Frauengruppe begründet sich in der Künstlerinnentätigkeit in einer dominant patriarchalen Gesellschaft und um die weibliche Wahrnehmungsweise, das weibliche Identitätsgefühl.

Der Name soll an die künstlerischen Sezessionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern, auch wenn diese Gruppierungen in Dresden Frauen noch nicht miteinschlossen, da diese erst seit 1919 an den meisten deutschen Kunsthochschulen zugelassen worden waren.

Zentraler Ort ist die gemeinsam betriebene Galerie – ein Ort um eigene sowie externe Ausstellungen und Projekte im öffentlichen Raum zu präsentieren. Im Juni 1990 findet die Gründungsausstellung der Dresdner Sezession 89 in der Galerie Comenius statt. Später zieht die Sezession in die Galerie Nord um, und seit 1996 ist die dritte Galerie, also „galerie drei“ in der Dresdner Neustadt das feste Domizil der Vereinigung. Wichtig ist den Mitgliedern der Dresdner Sezession 89, dass alle ihre künstlerische Selbstbestimmtheit behalten, es geht vielmehr um einen aktiven Austausch zwischen jungen, arrivierten und externen internationalen sowie nationalen Künstlerinnen.

Das es eben sehr viel weniger Möglichkeiten gab für Künstlerinnen ihr Werk zu zeigen oder so zu präsentieren, dass es wirklich mal in den Fokus kommt. Wir haben zwar auch immer sehr schöne Zeitungsartikel, aber leider sind viele Dinge dann doch nicht so präsent gewesen, wie wir uns das vielleicht gewünscht hätten. Aber man muss einfach weiter machen und ich finde, was mir wirklich sehr gefällt, ist dieser „Mnemosyne Wasserkunstweg“, dass wir den eben auch fest installieren konnten. […] Wir hatten natürlich damals immer Wasserkunstaktionen, also verrückte Geschichten, wundervolle Sachen, also das ist immer noch beglückend. Das ist jetzt natürlich schon 25 Jahre zum Teil her. Aber das sind wirklich ganz herrliche Ideen zu dieser Zeit auch gewesen. Was auch toll ist, dass wir mit der Stadtentwässerung so einen guten Faden gesponnen haben, dass also der Kaitzbach nicht mehr einfach verrohrt sozusagen, einfach in das Entwässerungskanalsystem geht, sondern jetzt eingeleitet wird in die Elbe. Deswegen hatten wir dann auch in der Stadtentwässerung Installationen gemacht.

Kerstin Franke-Gneuß

Neben ihrer eigenen künstlerischen Arbeit ist Kerstin Franke-Gneuß, wie viele ihrer Berufskolleginnen, auch auf andere Einkünfte angewiesen um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Also ich habe jetzt keinen Sponsor, was man einen guten Mäzen nennt, der mich begleitet. Also ich habe immer alles aus meiner eigenen Kraft heraus geschaffen.

Kerstin Franke-Gneuß

 25 Jahre zeichnete sie für Mal- und Zeichenkurse in der Volkshochschule verantwortlich. Mit der Gründung des eingetragenen Vereins Kreative Werkstatt in Dresden obliegt ihr 1994 der Aufbau einer Grafikwerkstatt. Dort gab sie Kurse in Malerei und Druckgrafik und unterstützte den Kreativraum mit Werkgalerie, der auf eine Initiative weiblicher Kunstakteure mithilfe institutioneller Förderung der Stadt zurückgeht. Seit 2005 übernimmt Franke-Gneuß die künstlerische Leitung von Kursen für Menschen mit Behinderung und unterschiedlichen Handicaps, zudem arbeitet sie mit psychisch Erkrankten.

Ich begleite sie und sehe vielleicht wo sind hier Potentiale, welches Material kann ich geben oder welche gedanklichen Anregungen, das ist sehr sehr unterschiedlich, weil sie eben komplexe Behinderungen haben. Ich betone vor allem das, was toll ist, was sie Wunderbares schaffen und das beflügelt sie. Dann geht das so untereinander, es ist auch jeder einzeln zu betreuen, das kann ich nicht so machen wie woanders, wo ich sozusagen etwas unterrichte, also etwas vermittle, in dem Fall ist es eigentlich so, dass ich die Quellen gut betreue.

Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß versteht ihre Arbeit mit behinderten und psychisch erkrankten Menschen nicht als kunstpädagogische Anleitung. Vielmehr begrüßt sie die historische Entwicklung, die der „Art Brut“ und „Outsider Art“ einen angemessenen Platz in der Kunstgeschichte gewährt. Wesentliche Impulse gingen in Deutschland von dem Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn (1886-1933) aus, dessen Sammlung künstlerischer Arbeiten psychisch Erkrankter im heutigen Bestand der Heidelberger Sammlung Prinzhorn zur Entstigmatisierung der Erkrankungen beiträgt. In diesem Sinne sucht die Dresdner Künstlerin kreative Potentiale und Begabungen zu wecken.

Ich würde das nicht als Pädagogik bezeichnen. Das ist einfach meine Begeisterung über diese Arbeit und diese Menschen, was sie machen, was da entsteht und einfach mein künstlerisches Wissen, und das spüren die natürlich, die lesen alles eins zu eins ab, da kann man nicht irgendetwas beschönigen oder so. Die merken das sofort. Ich glaube es vermittelt sich auch, die Kontexte in denen ich das sehe, da gibt es ja auch die Prinzhornsammlung. Es ist also schon sehr gut eingebunden jetzt gesellschaftlich, dass das eine ganz besondere Form von Kunst ist und das spüren die auch. Die haben auch Stolz für ihre Arbeit, für ihr Werk. Die Frage ist manchmal wie lange sie sich konzentrieren können, dass ich dafür vielleicht auch ein wenig Raum schaffe und einen kleinen Hinweis gebe, dass sie wieder ins Bild zurückkehren können. Einer zum Beispiel, der kommt nur zum Zeichnen, um seine Freundin streicheln zu können, die er sonst nie sehen kann und dann malt er mit der linken Hand, streichelt sie rechts, spricht zu ihr und sie arbeitet ganz selbstvergessen. Es ist so unglaublich berührend. 

Kerstin Franke-Gneuß

Die Rezeption ihrer Arbeit, vor allem der unmittelbare Austausch mit Sammlern und Kunstinteressierten bedeuten Kerstin Franke-Gneuß sehr viel. Empathie und Begeisterung teilt sich mit, wenn die Künstlerin über ihr künstlerisches Schaffen spricht.

Also man ist schon sehr, also zumindest ich bin schon sehr dankbar für einen guten Blick, gute Augen, dass jemand […] ich merke das ja auch wie jemand körperlich reagiert und wie ein Blatt anspricht oder, dass mir Bestimmte [Sammler], die jetzt schon Bilder von mir haben, erzählen was die Bilder noch nach Jahren mit ihnen machen und wenn die dann gucken kommen, das ist unglaublich anregend und das bringt mich natürlich weiter. Und natürlich brauche ich auch Resonanz, das ist für mich sehr wichtig, weil man ist natürlich nicht immer im obersten Level, und das bringt einen sofort wieder da hin, dass man diesen Anknüpfungspunkt findet.

Eigentlich ist es nur, dass ich die Kunst liebe. Wenn ich das mit anderen teilen kann und wenn dieser Funke überspringt, das ist einfach fantastisch. […] Dass ich das ausleben darf, also dass ich meine Kunst in die Welt geben darf, und dass es Menschen gibt, denen das was sagt.

Kerstin Franke-Gneuß, „Splitter“, Aquatinta, 54,6 x 88,6 cm, 2017 | Foto: Kerstin Franke-Gneuß

Kerstin Franke-Gneuß Website und Social Media

Portrait- und Atelieraufnahmen von Adam Dreessen

Musikangaben zur Podcastfolge:

Künstler Titel Lizenz
KomikuSunset on the beach(CC01.0)
John BartmannInterstellar Space(CC01.0)
Soft and furiousAnd never come back(CC01.0)
Soft and furiousStill Weaker than Them(CC01.0)
Claude DebussyLa mer – Jeux des vagues
interpretiert von US Air Force Band
Public Domain Mark 1.0
Robert Schumann
Kinderszenen
Scenes from Childhood, Op. 15 – VII.
Dreaming/Reverie (Träumerei)
Public Domain Mark 1.0
Camille Saint-SaënsThe Carnival of Animals – VII. Aquarium
Seattle Youth Symphony
(CC BY-SA 3.0)
Arvo PärtVariations for the Healing of Arinushka
interpretiert von Markus Staab
(CC BY 3.0)
Arvo PärtUkuaru valss für Klavier
interpretiert von Markus Staab
(CC BY 3.0)

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