Zu Besuch im Atelier von Sándor Dóró

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Der Wille zur Kunst führte ihn über eine Gastronomieausbildung, den Weinbau und das Freistilringen schließlich zum Studium in die DDR. In den 1980er Jahren erlebt er eine weitgehend doktrinfreie Atmosphäre an der Kunsthochschule in Dresden. Hier prägte der Künstler seit 2008 zehn Jahre lang den Fachbereich Anatomie und Aktzeichnen. In den 1990er Jahren entwickelt er Perfomances, es entstehen erste Installationen aus Objekten der soeben untergegangenen DDR.  Auch in der Malerei beschreitet Sándor Dóró neue Wege mit seinem Konzept der Kastenbilder. In Deutschland fühlt er sich zu Hause, allein in den Sommermonaten zieht es ihn zu Pleinairs in den Südosten Europas, in die Nähe Debrecens oder nach Budapest.

Mein Vater war Landwirt und meine Mutter war mit den vier Kindern zu Hause, das konnte man nicht anders machen zu dieser Zeit. Ich bin 1950 geboren, meine Schwester 1944, ein Jahr vor dem Krieg, es war nicht so einfach ohne Elektrizität. Wenn ich das meinen Kindern erkläre, wollen sie das nicht glauben. Für eine sechsköpfige Familie zu waschen war schwer. Damals war es in Ungarn [generell kein rückständiges Land], aber es war eine „Ecke“ in Ungarn wo es sich nicht gelohnt hat eine elektrische Leitung zu verlegen und das war eben so, jetzt nicht mehr natürlich.

Sándor Dóró

Im Juni 2020 besuchten wir den Künstler Sándor Dóró in seinem Atelier. Vor über vierzig Jahren kam er nach Dresden um hier Kunst zu studieren. Aufgewachsen in einer ungarischen Kleinstadt, war er bereits als Gymnasiast ein begeisterter Zeichner, eine Begabung, die seine Mutter früh erkannte und förderte. Der Schüler Dóró nahm seither Zeichenunterricht in einer staatlichen Kunstschule in Debrecen.

Meine Mutter hat meine Schwester gebeten bitte schau nach, wann und wo läuft diese Zeichenschule [wann findet der Zeichenunterricht statt], Sándor muss dort hinkommen. Und das hat mir sehr gut gefallen, dass meine Mutter das auch ernst genommen hat und da habe ich angefangen parallel zum Gymnasium [die Kunstschule zu besuchen]. Mit dem Zug fuhr ich jeden Tag früh um sieben oder 6:50 Uhr in die Stadt zum Gymnasium und danach zur Zeichenschule und abends um 23:00 Uhr nach Hause.

Sándor Dóró

Drei Jahre nach der Niederschlagung von Streiks, Demonstrationen und Protesten in der DDR bricht auch in Ungarn der Volksaufstand aus. Die erbarmungslose Verfolgung etwaiger Aufständischer, sogenannter Konterrevolutionäre, erreichte auch die ostungarische Provinz. Der damals sechsjährige Grundschüler Dóró erhält eine Ahnung von der Perfidie des Systems in das er geboren wurde.

…ich habe nur zwei Kanonenschüsse gehört, ich war sechs Jahre alt. Dann in der Grundschule, ich war in der ersten Klasse und das war ein kleiner Ort. Eines Tages kam dann so ein Soldat [mit einem Motorrad] mit Seitenwagen, stellte die Lehrerin an die Seite und fragte, es war die Stasi, als die 1956 erledigt haben [den Aufstand niedergeschlagen haben], „na Kinder wer hat zu Hause Waffen und Gewehre gesehen und Handgranaten und Kugeln“. Und die Kinder haben erzählt wie ihr Papa…stell dir vor, das ist der Teufel und dann natürlich am nächsten Tag kommt die Stasi raus aufs Land zu den Familien und der Papa weiß gar nicht, dass sein sechs Jahre altes Kind ihn ungewollt verraten hat. Eine unglaubliche Zeit und das ist jetzt nicht mehr da.

Sándor Dóró

Als Sándor Dóró 15 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, bis dahin erlebt er eine nahezu ungetrübte Kindheit mit der Familie.

Ich hatte drei Geschwister, so lebten wir in einem großen Garten und dieser große Garten war eingezäunt auf einem Gebiet, das vielleicht einmal in früheren Jahrhunderten zu einer Herrschaft gehörte. Da gab es fünf Brunnen. Wir mussten das Wasser so tragen und dieser Garten war eingezäunt mit einem lebenden Grünzaun, mit Dornensträuchern. Das war ein unglaublich ernstzunehmender Zaun und innerhalb dieses Zauns war auch ein Wachmann, welcher auch in dem ersten Haus gewohnt hat und täglich dreimal innen [innerhalb des Grundstückes] seine Runden gemacht hat, um die Gärten gegen Diebe zu schützen, mit einem Luftgewehr.

Sándor Dóró

Aus kindlichen Kriegsspielen mit seinen Freunden im Garten entsteht bei Dóró ein ernsthaftes Interesse für das Freistilringen. Zielgerichtet, von Schule und Militär gefördert, verfolgt er den Sport bis Mitte der 1970er Jahre und nimmt sogar an den ungarischen Meisterschaften teil. Ungarn zählte seit dem zweiten Weltkrieg zu den Ringerhochburgen Osteuropas und kann in dieser Disziplin auf zahlreiche Olympiasieger verweisen.

Ja in allen kleineren Städten und Dörfern gibt es Ringervereine, weil es natürlich ein Sport ist wo man nicht sehr viele Dinge braucht, keine Motoren, kein Boot, keine Ruder, nichts als eine schwarze Sporthose, sogar barfuß kann man ringen. Die Naturvölker nutzen das auch, auf gegrabenem Sand und los.

Sándor Dóró

Nach seiner Gastronomieausbildung und einem Fachstudium für Weinbau in Gyöngyös kehrte er Mitte der 1970er Jahre für den Militärdienst nach Debrecen zurück und nahm seine Zeichenstudien wieder auf. Der Wunsch nach einem Studium der bildenden Kunst wächst. Als Gymnasiast erfährt er erstmals aus den Erzählungen seiner Mitschüler, dass Dresden eine Kulturstadt in der DDR, über besondere Kunstsammlungen verfügt. Die Erfüllung des Wunsches diese Stadt einmal selbst zu sehen gerät in greifbare Nähe. Dank der Unterstützung seiner damaligen ersten Frau, beginnt der gebürtige Ungar Ende der 1970er Jahre ein Kunststudium in der DDR.

Es war nicht so einfach. Meine Frau hatte einen Brief geschrieben mit der Frage, ob wir mit einer Mappe vorbeikommen können, ob ich überhaupt hier geeignet bin, für die hiesige Kunsthochschule. Und wir haben daraufhin einen Termin bekommen und dann einmal dort wartend, geht der Studienbeauftragte auf den Flur und es kam eben Paul Michaelis, ein ehemaliger Professor der hiesigen Hochschule, vorbei. Er hatte Siegmund Jähn gemalt, wisst Ihr, und der sagte „bitte komm mal rein“ und dann haben wir die Mappe durchgesehen und er sagte „ja, der ist geeignet“. Ja das war für die Beamten auch wichtig und dann hat er uns ernst genommen und dann habe ich einen Aufnahmeprüfungstermin bekommen, das war 1978 im Frühjahr. Weil ich noch nicht offiziell hier lebte habe ich einen Studienplatz 1979 im Herbst bekommen. Das war damals auch nicht so [einfach], die Aufnahmeprüfung konnte man bestätigt haben aber der Studienplatz war etwas anderes. Und so musste ich dann meinen Pass beim Konsul vorzeigen, dass ich jetzt in der DDR leben werde. So ging das stufenweise.

Sándor Dóró

Im Herbst 1979 beginnt Sándor Dóró sein Kunststudium in Dresden. Er zählt zu den wenigen ausländischen Studierenden in der DDR, denn in der Zeit von 1951 bis zum Mauerfall kommen etwa nur drei Prozent aller Hochschulabsolventen aus dem Ausland. Die DDR wirbt aus Prestigegründen um Studenten aus über 100 Staaten. Diese kommen meist aus sozialistischen Bruderstaaten innerhalb Europas. Der zweite deutsche Staat trug sämtliche Ausbildungskosten für die Studierenden.

Aber ich habe hier [in der DDR] einen ausländischen Status gehabt. Dadurch war ich nicht gezwungen, außerdem war ich durch die gastronomische Arbeit, durch das Militär permanent geregelt und diszipliniert. Und dann fange ich hier an einer Kunsthochschule an, alles war frei. Ich konnte sofort eine Wohnung in der Neustadt finden, was für mich in Ungarn unvorstellbar gewesen wäre, dass ich als Student eine Wohnung gefunden hätte. Bei uns waren die Wohnungsverhältnisse andere. Und dadurch habe ich mich sehr frei gefühlt. Also ich durfte als ungarischer Staatsbürger nach Einladung einmal in den Westen fahren.

Sándor Dóró

Die künstlerische Ausbildungslandschaft in der DDR konzentriert sich regional auf Berlin, Potsdam und Sachsen. Insgesamt gibt es nur vier Kunstakademien in der DDR:  die Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, die Hochschule für Bildende Künste in Dresden, die Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale und die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Gemessen an heutigen Studierendenzahlen, war es damals nur ein Drittel, das an der Dresdner Hochschule studierte.

Wir waren die gesamte Kunsthochschule auch mit der Fachhochschule 200 Leute damals. Und ich denke, die Maler vom ersten bis zum fünften Studienjahr waren 40, und jetzt gibt es schon im ersten Studienjahr mehr als 40 Studenten. Es wurde die Studentenzahl also mehr als verdreifacht. 660 Studenten sind vergleichsweise mit den 200 Studenten von damals,  dreieinhalb mal mehr. Ich denke damals war das genug. Das ist für eine Gesellschaft ein richtig großes Geschenk, wenn es so viel kulturell gebildete Menschen gibt…

Sándor Dóró

In den 1980er Jahren ist Sándor Dóró Student in der Fachklasse Malerei und Grafik von Günter Horlbeck, der bereits Anfang der 1950er Jahre an der Hochschule doziert. Dabei schätzt Dóró vor allem Horlbecks Art des Unterrichtens, die frei von damaligen Kunstnormierungen des sozialistischen Realismus war. Laut Dóró herrschte ein liberaleres Klima innerhalb Horlbecks Klasse.

In der Hochschule konnte ich auch sehr frei [studieren], ich war Horlbeck-Student und ich kann ein paar Zeichnungen zeigen, die während der Zeit entstanden sind. Sozialistischen Realismus gab es nicht bei uns. [zeigt Zeichnungen aus seiner Studienzeit]. Alle diese Zeichnungen sind in der Hochschule entstanden, Tuschzeichnungen, experimentelle Arbeiten. Ich habe experimentiert, wir haben abstrahiert, Formen gesucht.

Sándor Dóro

Durch einen glücklichen Zufall entgeht Dóró dem damals für alle Studenten obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium der DDR, dazu zählte u.a. der Unterricht in „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ und „Politischer Ökonomie“.

 (…) was ich natürlich jetzt verraten kann, die ungarischen Noten waren umgekehrt. Bei uns ist eine fünf die beste Note, hier ist die fünf die Schlechteste. Ich hatte die ganz schlechten Noten, aber die waren eine zwei bei uns. Als ich meine Noten dem Dozenten gezeigt habe, [sagte dieser] …“schön, oh zwei“, sofort habe ich verstanden worum es geht, ich habe kein Wort gesagt. „(…) Sie sind befreit, diese Noten sind anerkannt“. Und das war eine total angenehme Geschichte, weil das war sehr rigoros natürlich wie [an] alle[n] Hochschulen mit diesen politischen Fächern.

Sándor Dóró

Später konnte der Kunststudent Dóró diese freie Zeit nutzen, in dem er als Assistent von Gottfried Bammes arbeitete. Bammes hatte seit den 1960er Jahren eine Professur für Künstleranatomie an der Dresdner Kunsthochschule. Seine Lehr- und Handbücher zählen bis heute zu den Standardwerken der Künstleranatomie.

Und so hat mich Prof. Bammes in der zweiten, in der letzten Woche, wo die letzten zwei, drei Wochen des letzten Studienjahrs waren, gebeten als Hilfsassistent für ihn zu arbeiten. Und ich habe gesagt sehr gerne, das mache ich. Und wegen meines Weinstudiums in Ungarn [blieben mir die politischen Fächer erspart]. Die politischen Fächer waren [in Ungarn] die gleichen Fächer wie hier: politische Ökonomie, Marxismus-Leninismus. Das konnte ich mit meinem Studienheft hier anerkennen lassen. Und in dieser Zeit, Montag, Dienstag waren diese theoretischen Schulungszeiten, da war auch die Anatomie angesetzt. Deswegen konnte ich statt dieser politischen Bildung, Marxismus-Leninismus und politische Ökonomie, die Anatomie machen.

Sándor Dóró

Nach dem Studium ist Sándor Dóró weiterhin für ein Jahr Assistent im Fachbereich der Künstleranatomie bei Gottfried Bammes. Anschließend beginnt er sich eine Existenz als freischaffender Künstler aufzubauen. Er erstellt u.a.  Repro-Fotografien für Kollegen, gibt Kurse an der Abendschule der Kunsthochschule und beteiligt sich an Ausstellungen.

In der DDR gab es drei Jahre noch [die] sogenannte Kandidatenzeit für den Verband Bildende Künstler, wir haben 300 oder 400 DDR-Mark bekommen, das war erst einmal schon genug. Im ersten Jahr nach dem Diplom habe ich bei Bammes ordentliche 750 DDR-Mark bekommen, dann diese Kandidatenzeit. Dann plötzlich schwankte es, es war das Leben nicht so ein großes Problem mit den Lebensmitteln und der Miete in der Neustadt. Ich konnte mich durchschlagen und Galeristen wie z.B. Ulrike Dagen und Galerien wie „Kunst der Zeit“ [verkauften meine Arbeiten], also ich konnte überleben, ich war nur für mich verantwortlich. Ich bin einfach reingewachsen, ich habe also so niemals gearbeitet [gemeint ist die Arbeit in einem kunstfernen Job], aber ich habe eine Affinität immer zum Kurseführen [Unterrichten]. Durch diese Erfahrung bei Bammes und dann habe ich hier auch nach der Wende Kurse geleitet. In der Markthalle mietete ich einen Dachraum, ich habe fotografiert für Kollegen, Kataloge fotografiert. Und dann habe ich in der Kunsthochschule auch noch die Abendschule für vier Jahre geleitet, das war auch mit einem Honorar [verbunden], dann im Riesaefau. Also zwei- oder dreimal ging ich in der Woche aus dem Haus abends. Aber so [war] ich immer im Stoff (…) ich war glücklich immer mit dieser Sache.

Sándor Dóró

Mit 35 Jahren bezieht Dóró ein kleines Atelier im Künstlerhaus in Dresden. Bis heute wohnt und arbeitet er in einem Atelier mit angrenzender Wohnung in diesem burgartigen Gebäude an der Elbe. Das Künstlerhaus Dresden wurde nach den Plänen des Architekten Martin Pietzsch Anfang des 1900 Jahrhunderts erbaut. Bis heute leben und arbeiten hier ca. sechzehn Dresdner Künstler. – Anfang der 1990er Jahre beginnt Sándor Dóró die materiellen Überreste der langsam verschwindenden DDR zu sammeln, er durchforstet Müllhalden, um geeignetes Material für seine Kunstinstallationen zu finden:

Und habe mich permanent durch die Schrott- und Containerwelt gesucht, die Formenwelt war nämlich für mich sehr spannend hier in Deutschland. Natürlich die industriellen Formen, egal woran man denkt, Radios, Lampen, Metallstücke waren für mich sehr aufregend. Was ich in Ungarn nicht gefunden habe…

Sándor Dóró

Insbesondere nach dem Strukturbruch 1989 wird die bis dahin gültige Waren- und Objektwelt der DDR unmittelbar in Frage gestellt und erfährt eine radikale Entwertung. Dórós Bewusstsein für die Vergänglichkeit der Dingwelt des Staatssozialismus motiviert die Entstehung seiner seriellen Re-Installationen. Aus einstigen Brotbackformen entstehen Arkadengänge. Industrielle Verbundschienen werden zu fragil schwebenden Bettgestellen.

Als ich diese Installationen im Raum und Re-Installationen damals gebaut habe, habe ich sehr sorgfältig auf dem Schrott [gesammelt] und der Schrott war unmittelbar nach der Wende hochspannend, das wurde alles über Nacht weggeworfen. Der moralische Verlust [gemeint ist wohl der Verlust der geleisteten Arbeit, das Bewusstsein darüber, dass die geleistete Arbeit plötzlich wertlos wurde]… so wie der Trabant, gestern war er noch 15.000 DDR-Mark wert und heute für 50 Westmark könntest Du Dir einen kaufen. Das war schon so und dadurch war es sehr spannend, man wusste nicht was genau sehr bald mit den Gegenständen, die dich angesprochen haben, passieren wird und so war das auch. Manche Gegenstände sind niemals zur Verwendung gekommen und manche doch und das ist auch nicht Müll was verwendet wird, sondern die Gegenstände sprechen dich an und dann sagt man ich nehme das mit, weil es interessant ist. Und so sind ein paar Gegenständen noch geblieben, in zwei Kellern, auf einem Dachboden und hier…Wahnsinn (lacht).

Sándor Dóró

In den 1990er Jahre verschmelzen Installationen und Performances mit einander. Beispielsweise baut der Künstler ein Archiv auf, in dem er den Atem verschiedener Protagonisten in Weinballons konserviert. Dieses Atemarchiv zerstört er in einer nachfolgenden Aktion. Die Performance kann gewissermaßen als ein Kommentar auf die militärische Operation der Nato gegen Jugoslawien im Rahmen des Kosovokrieges gelesen werden.

Ende der 1990er Jahre wird der Künstler Mitglied von flexible x, einer Gruppe in Dresden agierender Performer, die unter der Leitung von Matthias Jackisch bis 2005 u.a. internationale Performancetreffen organisiert. Den Wechsel des Wirtschaftssystems von Plan- zu Marktwirtschaft exerziert Dóró in sozialen Interaktionen z.B. im Rahmen seiner Performance „Nehmen und Geben“.

Menschliche Lebewesen nehmen immer etwas ein, es ist eine grundsätzliche Tat und Einnehmen und Ausgeben ebenso. Ja das war so, ich habe eine Prothese. Und „Geben und Nehmen“ war diese Performance und als ich in das Brot ein Loch geschnitten habe wie einen Mund, habe ich daraus gegessen, dann habe ich meine Prothese dort [in die Aushöhlung] hineingelegt. Das Brot hat auch etwas von mir bekommen und kehrt zurück in den ursprünglichen Zustand. Ich denke, das war die konsequenteste Performance, die ich so gemacht habe. Mit dieser Gleichwertigkeit.  

Sándor Dóró

Zu Beginn des neuen Jahrtausends wird Dóró erneut an die Hochschule berufen. Als künstlerischer Mitarbeiter für den Fachbereich Künstler-Anatomie kann er an seine Erfahrungen während der Assistenzzeit bei Gottfried Bammes anknüpfen.

Ja wegen des Ringens hat mich die Anatomie des Körpers besonders interessiert. In dem Wohnheim in dem ich hier wohnte haben die Leute mir das Anatomie-Handbuch von Bammes gezeigt. Und das war natürlich für mich eine tolle Fundgrube, alles was mich interessierte. Alle seine Vorlesungen waren sehr informativ für meine früheren Erfahrungen im Ringen, ein Kreuzbandriss zum Beispiel, warum gibt es diesen inneren Knochenteil hier [zeigt auf den Hals]? Man kann bei einer Aktion mit den Fingern in ihn hineinhaken, hier rutscht man nicht ab und warum ist es möglich mit einer Ringerbrücke einen Gegner auszutricksen und die Schulteraktion zu vermeiden? Diese federnde Wirbelsäule… also überall und alles war für mich auch eine Bestätigung und eine Antwort auf frühere Fragen. Weil wir Ringer haben das nicht gewusst. Aber wir haben permanent mit den Verletzungen, mit den Grenzen von unserem Körper [zu tun gehabt]. Warum darf man nicht einen Kopf mit zwei Händen allein anfassen, warum muss ein Arm dazu gefasst werden? Warum darf ich den Kopf nicht nach hinten ziehen? Also es sind auch Gesetze und diese Gesetze sind die Grenzen des Körpers, die Möglichkeit was ein Körper ertragen kann. Das war natürlich im Ringen verboten und so habe ich mir alles was ich in der Vorlesung gehört habe gemerkt.

Sándor Dóró

Die Relevanz des Lehrfachs Künstler-Anatomie wurde innerhalb der Hochschule immer wieder in Frage gestellt. Für Dóró ein Grund mehr den Inhalt des tradierten Unterrichts mit seinen Erfahrungen als professioneller Ringer und der künstlerischen Performance zu bereichern.

Wie Paul Valéry damals toll und intelligent über den menschlichen Körper gesagt hat: der menschliche Körper ist auf zweierlei Arten beherrschbar, so wie der Anatom die Muskeln beherrscht und so wie der Sportler die Muskeln beherrscht, diese beiden Wege, und ich habe diese Wege [beide beschritten].

…so wollte ich auch mal das Ringen vorschlagen, wenn die Anatomie abgeschafft wird, also einfach zwei Stunden pro Woche Ringer für die Studenten [engagieren]. Dann kam das so plötzlich, dass ich mitmachen durfte und damals habe ich noch intensiv gerungen hier in Dresden und die Jungs waren bereit zu kommen und das haben wir fünf Mal gemacht, aber es wurde immer schwieriger, denn damit diese Veranstaltung machbar ist, muss es einen leeren Raum geben und es müssen mindestens vier oder fünf Ringerpaare da sein, die zeigen und ringen…

Außerdem ich habe bestimmte Schwerpunkte gesetzt, z.B. habe ich sehr großen Wert auf den Hals gelegt, weil er bei Bammes nicht so im Vordergrund stand, nicht so sehr. Oder die Mimik, die mimischen Muskeln… Ich habe bewusst diejenigen Teile unter die Lupe genommen, die bei ihm nicht so besprochen wurden und durch die Ringer-Perfomances sind auch zwei Studenten danach zum Ringen gegangen, eine junge Frau und ein junger Mann.

Das erste Mal haben wir das im Senatssaal auf der Brühlschen Terrasse gemacht und danach im tollen Theaterraum in der Güntzstraße und das war dort sehr schön [gemeint sind zwei Standorte der Hochschule für Bildende Künste in Dresden].

Sándor Dóró

Sándor Dórós Einsatz für die Lehre der Anatomie mündet in der Publikation „Künstleranatomie. Menschliche Körper zeichnen“, die 2015 erscheint. Im Unterschied zu bisherigen Anatomie-Handbüchern vermittelt Dóró seine Kenntnisse in farbigen Kreidezeichnungen, räumlich-perspektivisch, auf schwarzem Tafelgrund. Zudem beschließt er jedes Kapitel mit einer eigenen künstlerischen Arbeit. Würdigung findet sein Engagement 2016 in der Verleihung der außerplanmäßigen Professur für Künstleranatomie und Aktzeichnen.

Parallel zu Installation und Performance entsteht Ende der 1980er Jahre ein malerisches Oeuvre des Künstlers. Dóró entwickelt das Konzept der Kastenbilder. Auf polygonalen Leinwänden entstehen in Acrylfarbe kastenförmige Körper in räumlich illusionistischer Wirkung. Sándor Dóró wendet sich damit bewusst gegen die bereits von Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian geforderte Referenzlosigkeit der Kunst. Für ihn ist das durch den amerikanischen Farbfeldmaler Ad Reinhardt prognostizierte Ende der Malerei noch lange nicht in Sicht.

Atelieraufnahmen von Adam Dreessen

…dass ein einzelner Künstler wie Jasper Jones mit seinen Zieltafelbildern und den Flaggenbildern erstmals in der Kunstgeschichte Bilder ohne Hintergrund schafft, dass also die Kontur und der Gegenstand das Gleiche ist, aber ich habe das 20 Jahre später selbst erfunden mit meinen Kastenbildern und nicht flächig [im Unterschied zu  Jasper Jones] sondern eine Illusion von einem dreidimensionalem Raum. Also, dass das ein total anderes Problem ist und eben im Gegensatz zu den Kubisten, die die Grenze des Bildes gesucht haben und dem schwarzen Quadrat von Malewitsch. Auch dieser Amerikaner [Ad Reinhardt] hat vorausgesagt die Malerei ist vorbei. Und das ist bei mir eben nicht, sondern wird eher bestätigt.

Sándor Dóró

Zu Beginn des neuen Jahrtausends knüpft Dóró an eine alte Tradition der sommerlichen Freiluftmalerei an. Er nutzt die Zusammenkunft mit gleichgesinnten Künstlern in Ungarn und Rumänien, um neben der Lehrtätigkeit seine autonomen künstlerischen Arbeiten zu verfolgen. Im Pleinair entstehen großformatige, informelle Tusch- und Acrylmalereien auf Papier. Doch das Thema der Kastenbilder holt ihn wieder ein. 2020 greift der Künstler das Sujet erneut auf.

Zeichnen und die Dreidimensionalität, also die Illusion gilt weiterhin, ob Kasten oder menschlicher Körper ist völlig egal, nur passiert etwas auf andere Art und Weise. Weil ich denke, das ist eine wichtige Geschichte. Und vielleicht das Wichtigste in meinem Leben, was ich so gemacht habe, aber es ist noch in Gährung.

Sándor Dóró

Dóró kam auf Umwegen zur Kunst und sieht die jahrzehntelange eigene künstlerischer Genese keineswegs als vollendet an. Emphatisch und mit hohem technischem Raffinement lotet er die Diversität und Grenzen des Malvorganges und seine Mittel aus. Dankbarkeit schwingt mit, wenn er über Haupt- und Nebenwege seiner künstlerischen Entwicklung reflektiert, die für ihn zugleich eine Aneignung der Welt bedeuten. 

Sándor Dóró im Atelier (Porträtfoto von Adam Dreessen)

Ich bin für dieses Glück dankbar, dass ich fähig bin selbstständig zu arbeiten. Dass ich fähig bin auch in einem anderen Land zu leben und alle diese Dinge erfüllen mich praktisch. Natürlich will ich meine Dankbarkeit zurückgeben.

In dem Sinne versuche ich abenteuerlich zu handeln oder unbekanntes Terrain zu besuchen aber ich bin nicht so ein Mensch, welcher so selbstzerstörend, z.B. in einer Performance agiert oder sich das vorstellen kann. Aso so etwas, dass ich z.B. meine Hand durch einen Nagel durchlöchere, ist für mich nicht möglich, da ist die Grenze. Das ist mir nicht möglich, ich bin überzeugt davon, dass ich alle Mittel habe meine Welt auszudrücken, dafür muss ich mich nicht kastrieren [Anspielung auf die Arbeit der Künstlergruppe des Wiener Aktionismus]. Aber trotzdem innerhalb meines Rahmens gehe ich immer den letzten Schritt, nicht den Vorletzten.

Sándor Dóró

Sándor Dóró Website: https://www.sandor-doro.com/

Porträt- Repro- und Atelieraufnahmen von Adam Dreessen (Juni 2020)

Musik

KomponistStückLizenz
Kevin MacLeodCheery MondayCC BY 4.0
Albert Ketèlbey In a Persian market (Piano arr.) CC BY 3.0
Béla BartókDance No. 2 – Tanz Nr.2, C-DurPublic Domain Mark 1.0
Johann Sebastian BachGoldberg-Variationen BWV 988, Variation 23Public Domain 1.0
Johann Sebastian BachGoldberg-Variationen BWV 988, Variation 29Public Domain 1.0
Johann Sebastian BachGoldberg-Variationen BWV 988, Variation 5Public Domain 1.0
Robert SchumannAus „Kinderszenen“, Opus 15, Nr. 3 Hasche-MannPublic Domain 1.0
Robert SchumannAus „Kinderszenen“, Opus 15, Nr. 9 Ritter vom SteckenpferdPublic Domain 1.0
Baldassare GaluppiKlaviersonate Nr. 5, C-DurPublic Domain 1.0
Enrique GranadosGoyescas, Opus 11, 3. El Fandango del CandilCC BY 3.0
Leroy AndersonThe Typewriter  CC BY 3.0
Frédéric ChopinÉtude, Opus 10, Nr. 5 in G-Dur – Schwarze TonartPublic Domain Mark 1.0
Johannes BrahmsUngarischer Tanz Nr. 5 – Allegro in fis-Moll Public Domain Mark 1.0

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